Die letzten Tage des Patriarchats beginnen im Kinderzimmer, oder: Warum wir einen Feminismus brauchen, der Eltern*schaft grundsätzlich mitdenkt

Spezial-Feminismus für Mütter*?

 

Bis vor wenigen Tagen war auf dieser Webseite an prominenter Stelle ein Zitat von Andrea O’Reilly zu lesen, das besagte, dass wir einen Feminismus brauchen, der speziell auf Mütter* zugeschnitten ist. Dieses Zitat habe ich entfernt, denn ich kann dem so nicht mehr zustimmen. Ich habe nämlich das Mütter*-Manifest von 1987 gelesen und festgestellt, dass die Forderungen dieser Mütter* mit denen der heutigen Mütter* zu 90% übereinstimmen (dazu folgt irgendwann mal eine genauere Analyse).

 

Spezial-Feminismus für Mütter* bringt's also nicht. Sicher, die Gleichberechtigung hat seitdem Fortschritte gemacht. Aber an der Mütter*- und Care-Arbeitsfront hat sich kaum etwas getan. Es ist so, wie es in dem anderen Zitat steht, das nun hier in der rechten Seitenleiste neu platziert ist: 

 

"Despite all of the advances made in the past 50 years or so (...), motherhood is still a sort of time machine, shooting women instantly back to 1950." Amy Westervelt, 2018

 

Care-Arbeit ist immer noch genauso schlecht bezahlt und gering geschätzt wie damals. Frauen* können jetzt leichter arbeiten gehen und generell mit Kindern am Berufsleben teilnehmen, aber Haushalt und Sorge bleiben immer noch an ihr hängen. Kein Wunder, dass alle Burnout kriegen.

 

Ja, so betrachtet könnte man denken, dass es dringend einen Feminismus für Mütter* braucht. Der dafür steht, dass die Sorgearbeit geteilt wird und so weiter. 

 

Kinder und Eltern*schaft müssen mitgedacht werden

 

Aber es führt zu nichts, wenn es auf der einen Seite den Feminismus kinderloser Frauen* gibt und auf der anderen Seite den Feminismus der Mütter*. Der Feminismus als Bewegung kommt nur dann weiter, wenn er Eltern*schaft grundsätzlich mitdenkt. Es ist für alle Feministen und Feministinnen essentiell, sich damit zu befassen, wie Kinder in dieser Gesellschaft aufwachsen.

 

Warum? 

 

Weil - hallo Binse! - Kinder die Zukunft sind. 

 

Es mag zwar für kinderlose Menschen erstmal nicht relevant und sogar sehr befremdlich erscheinen, was Familien so treiben. Ich kenne das von mir selbst - als ich noch kein Kind hatte, habe ich mich nicht für Elternschaft interessiert. Schon gar nicht in feministischer Perspektive. Wozu auch? Betraf mich ja nicht. 

 

Aber das ist ein gefährlicher Fehlschluss und mit ein Grund dafür, warum heute die Neue Elternbewegung, die Gleichstellungskommission, der Frauenstreik und so viele mehr EXAKT die gleichen Forderungen stellen, wie die Frauen* vor über 30 Jahren.

 

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm

 

Denn kein Entgelttransparenzgesetz, keine Quote und keine Initiative zur klischeefreien Berufswahl oder gegen Sexismus kommt gegen das an, was Kindern zuhause von Minute 1 an vorgelebt wird. Die Sozialisation beginnt im Moment der Geburt. 

 

Und wie sieht diese Sozialisation aus? Kinder werden wie vor 30 oder 50 oder 100 Jahren in Familien geboren, in denen überwiegend Mütter* zuhause bleiben und die Familienarbeit stemmen. Sie haben Väter*, die vor allem für das Familieneinkommen zuständig sind. Sie wachsen mit gegendertem Spielzeug und rosa-hellblauer Kleidung auf. Sie bekommen mit, dass ihre Omas ohne die Rente der Opas finanziell aufgeschmissen wären. 

 

Dann kommt der Moment, in dem sie selbst Kinder bekommen und feststellen, dass das mit der Gleichberechtigung gar nicht mehr so leicht umzusetzen ist. Dass plötzlich ganz schön viele tiefsitzende Erwartungen und Rollenklischees auftauchen, derer man sich vorher kaum bewusst war.

 

Innere und äußere Arbeit vs. zeitnahe kognitive Konsonanz

 

Es gibt an diesem Punkt zwei Möglichkeiten:

 

1. Die Eltern* beginnen (oder ein Elter beginnt), die innere und äußere Arbeit zu leisten, um Gleichberechtigung herzustellen. Das bedeutet, Konflikte auszutragen - nicht nur in der Partner*innenschaft, sondern oft auch mit (Schwieger-)Eltern* und Freund*innen, die ebenfalls Vorstellungen haben, wie die Dinge sein müssen. Das bedeutet auch, das eigene Verhalten zu reflektieren und sich der Klischees bewusst zu werden, die man selbst verinnerlicht hat, was schmerzhaft sein und Überwindung kosten kann. Im Äußeren bedeutet es, Arbeitszeit zu reduzieren, ggf. Einkommenseinbußen hinzunehmen, Karrierewege aufzugeben, neue Fähigkeiten zu erlernen. Ergo: ziemlich viel Arbeit und verdammt anstrengend, emotional und otherwise.

 

2. Die Eltern passen sich den Umständen an und begeben sich, wenn auch zögerlich, in die entsprechenden Rollenprofile. Je nach Charakter und Leidensdruck fällt das manchen leichter und manchen schwerer. Allen aber ist gemein, dass sie - innerlich und äußerlich - mit diesem Vorgehen auf Verständnis treffen. Innerlich insofern, als dass das eigene Verhalten mit dem übereinstimmt, was man als weiblich oder männlich sozialisierte Person gelernt hat. Äußerlich insofern, als dass die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen gut dazu passen und es von dort kaum Widerstände gibt. Im Ergebnis sind die kognitiven Dissonanzen bei dieser Option ziemlich gering. 

 

Viele wählen - aus verschiedensten Gründen - den zweiten Weg. Und produzieren so die nächste Generation, die entsprechend sozialisiert wird. Vielleicht supporten und fördern sie sogar ab jetzt Klischees, um vor sich selbst und anderen die eigene Entscheidung zu rechtfertigen und zu stärken. 

 

Derweil arbeitet der kinderlose Feminismus an Entgelttransparenz, Quoten und Anti-Diskriminierung. Das ist auch gut und notwendig. 

 

Die letzten Tage des Patriarchats

 

Aber so lange nicht alle anfangen, Elternschaft und Kinder grundsätzlich mitzudenken, werden sich Ungleichheit und Ungleichberechtigung weiter reproduzieren. 

 

In 30 Jahren findet dann jemand diese eingestaubte Webseite und stellt fest, dass das alles schon mal da war und sich in der Zwischenzeit eigentlich kaum was getan hat. Tja.

 

Die letzten Tage des Patriarchats beginnen im Kinderzimmer (1).

 

 

 

(1) Der Titel dieses Posts ist eine Anlehnung an den Buchtitel "Die letzten Tage des Patriarchats" von Margarete Stokowski, der sich zu einem geflügelten Wort entwickelt hat. 

 

#equalcare #vorbild #mütterbewegung #neueelternbewegung #immerdasgleiche #gendermarketing #rolemodels #lebenmitkindern #feministparenthood


Um die Zusammenhänge zu verdeutlichen, für diesen Artikel, aber auch für die vorherigen und sowieso, habe ich mal ein Schaubild gebaut. Das ist der "inequality reproduction circle":

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